MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Kibbuz Hanita – Zwölf Schweizer feiern 50-jähriges Israel Jubiläum

in Israel Zwischenzeilen/Reportagen

Eines der nördlichsten Kibbuzim in Israel ist vor einem halben Jahrhundert zur neuen Heimat von zwölf Schweizern geworden. Ein Besuch bei der israelisch-Schweizer Gruppe, die zusammen mit dem Kibbuz den Wandel der Zeit erlebt hat.

Von Jennifer Bligh

Das kleine, weisse Häuschen steht einsam und verlassen mitten im Kibbuz Hanita, ein elektrischer Rollstuhl ist das einzige Gefährt auf dem grossen Parkplatz. Nichts mehr weist darauf hin, dass sich hier vor Jahrzehnten einer Dreh- und Angelpunkte der quirligen Gemeinschaft befand: In dem kleinen Häuschen konnte man seinen Namen in eine Liste eintragen, um sich für eines der 15 Kibbuz-Autos anzumelden. „Das ist lange her, heute haben weit über 90 Prozent der Kibbuz-Bewohner ihr eigenes Fahrzeug“, erzählt Yochi. Der gebürtige Schweizer lebt seit fünfzig Jahren in einem der nördlichsten Kibbuzim in Israel. Nördlicher, also noch näher an die libanesische Grenze heran, geht es fast nicht – der Maschendrahtzaun am Kibbuz sichert Spaziergänger nicht nur vor dem abfallenden Hang, der Zaun ist gleichzeitig auch Grenzzaun. Libanon beginnt hinter der Haustür, ein Hügel mit Funkantenne wirkt wie ein gewaltiger Schutzwall. Falls mal wieder Raketen aus dem Norden kommen, fliegen sie, beezrat hashem (mit Hilfe Gottes), über Hanita hinweg. Aber insgesamt ist das Leben im Kibbuz friedlich – Hanita ist eine Ruheoase mit einem grandiosen Ausblick über die grünen Hügel des Nordens, das Meer und die grau abgespannten Bananenplantagen des Kibbuz-eigenen Anbaus.

Ein Relikt aus alten Zeiten: hier trug man sich früher für die Kibbuz-Autos ein (Fotos: J.Bligh)
Ein Relikt aus alten Zeiten: hier trug man sich früher
für die Kibbuz-Autos ein (Fotos: J.Bligh)

 

Neues Leben rund um den alten Kern

Kibbuz-Bürgermeister Yochi biegt mit viel Schwung in kleine und grössere Strassen ein, er kennt die Geschichte zu jedem Gebäude. Und praktisch alle Bewohner. Zu den Spaziergängern an diesem Nachmittag ruft er fröhlich „Shalom“. Jeder winkt zurück. Als ein Mädchen über die Strasse läuft, das er nicht sofort den passenden Eltern zuordnen kann, zeichnet sich eine kleine Sorgenfalte auf seiner Stirn ab. In Hanita ist man sich nah. Es gibt 180 vollwertige Kibbuz-Mitglieder, mit deren Kindern, den Freiwilligen, neu hinzugezogenen Familien in privatisierten Häusern und Mietern kommt der Kibbuz auf rund 600 Bewohner. Hanita selber wurde noch vor Israel gegründet: seit 1938 werden Bananen, Avocados und Gemüse angebaut, eine Beschichtungsfabrik und ein Kontaktlinsenhersteller sind heute die grössten Arbeitgeber.

Phänomenaler Ausblick vom Kibbuz Hanita über Israels Norden
Phänomenaler Ausblick vom Kibbuz Hanita über Israels Norden


Die blaue Linie

Die verlassene Kibbuz-Auto-Station, das langsam zerfallende Amphi-Theater, der leere Musik-Saal, das eingefallene Volontärs-Haus, die geschlossene Wäscherei und der „Cheder Ochel“, der Diningroom, der nur noch am Mittag geöffnet ist, könnten als Anzeichen interpretiert werden, dass Hanita sich langsam selber zu Grabe trägt. Doch dieser Eindruck täuscht: Der Kibbuz hat die Transition vom sozialistischen Start zum finanziell soliden, weil Grossteils privatisiertem, Finanzierungsmodell geschafft. Die ehemaligen Häuser für Kinder und Jugendliche sind jetzt Kindergärten und Tagesbetreuungen, ein kleines Altersheim, ein grosser Tennisplatz, ein neues Schwimmbad – und 70 neue Häuser, allesamt privat finanziert. „Diese Häuser liegen aber ausserhalb der blauen Linie“, erklärt Yochi und biegt schwungvoll in die Wohnstrasse ab. Die „blaue Linie“ markiert den ursprünglichen Kibbuz. Die neuen Häuser sind grösser, mit mehreren Autos vor der Einfahrt, überall liegen Kinderspielzeug und Laufräder. „So haben wir uns verjüngt“, erklärt der 71-Jährige. Das Durchschnittsalter der Kern-Haniter ist über 65. In den neuen Häusern wohnen zum Teil die Kinder der Kibbuzniks, zurückgekehrt nach mehreren Jahren. Die jungen Familien tun der gewachsenen Gemeinde gut, bringen frischen Wind und neues Blut in den Kibbuz.

Der Kibbuz eigene Zoo mit Pferden, Ziegen und allerlei Kleingetier
Der Kibbuz eigene Zoo mit Pferden, Ziegen und allerlei Kleingetier

 

Schweizer Leben im Kibbuz

Eine gut integrierte Insel innerhalb der Gemeinschaft sind die zwölf Schweizer, die gerade ihr 50-jähriges Kibbuz-Jubiläum gefeiert haben. Praktisch alle waren ursprünglich durch den Schweizer Jugendbund ‚Brit Hazofim‘ gekommen und im Kibbuz der Liebe wegen oder aus rein zionistischen Gründen geblieben. An diesem Abend sitzen die Schweizer Yochi, Corinne Meck, und Yehuda Pruschy mit ihren israelischen Partnern bei Marmorkuchen und Kaffee zusammen. Sie alle haben die jahrzehntelange Kibbuz-Entwicklung miterlebt: von neuen Arbeitsplätzen in neuen Fabriken, der Hoch-Zeit der Volontäre, Heiraten, Schwangerschaften, Familienzeit und viele viele Diskussionen: Eine wichtige Frage innerhalb des Kibbuz war beispielsweise, wie man Wohneigentum bewerten soll, was vererbt werden kann und wieviel Geld man bekommt, wenn man den Kibbuz verlassen sollte – das Schicksal von Hanita ist in der Hand der Abstimmungen und Mehrheitsentscheidungen – sowie im Überlebenswillen der Bewohner. Und eines kann gesagt werden: selbst, wenn inzwischen vom Sozialismus nur noch eine kleine Spur da ist, die Debattierfreudigkeit ist geblieben. Nur heute von bequemen Ledersesseln aus und nicht mehr um Lagerfeuer herum. Die Häuserfrage wurde übrigens so geregelt: wer den Kibbuz verlässt, bekommt Bargeld, wer bleibt, ist in sein eigenes Haus umgezogen, das den Kindern vererbt werden kann.

 

Kibbuz Leben und Diskussionskultur (Foto: privat)
Kibbuz Leben und Diskussionskultur (Foto: privat)


Neue Aufgaben

Die 59-jährige Corinne ist mit 40 Jahren Kibbuz-Zugehörigkeit die Jüngste. Aus einem einjährigen Volontärsaufenthalt wurde nicht nur ihr neues Zuhause, auch ihren Ehemann Giora hat sie im Kibbuz kennen gelernt. Anfangs lernte sie vier Stunden Hebräisch in der Kibbuz-eigenen Ulpanschule, gefolgt von vier Stunden Arbeit im Kibbuz. „Ich erinnere mich, dass ich einmal bei der Zitronenernte mithelfen sollte, aber meine Karriere endete gleich wieder abrupt, als mir etwas ins Auge geflogen ist“, erzählt sie und muss lachen; die anderen haben diese Geschichte schon oft gehört, jeder kann sein eigenes Kapitel aus der Landwirtschaft beisteuern.

Yehuda, der religiös aussieht, aber die grosse Kippa eher aus zionistischen denn aus rein religiösen Gründen trägt, ist 1966 mit dem Schiff aus Neapel über Haifa gekommen. Als er im Kibbuz zum Orangenpflücken eingeteilt wurde, aber wegen seiner Farbblindheit nicht erkennen konnte, welche schon reif und welche noch grün waren, endete seine Pflückerkarriere ebenfalls abrupt. Die Schweizer, und da ist sich der harte Kern schnell einig, können zwar genauso anpacken wie alle anderen, aber letzten Endes sind die meisten Verwaltungs- und Finanzjobs im Kibbuz bei ihnen in guten Händen gelandet.

50 Jahre Schweizer in Hanita (Foto: Yochi Solna)
50 Jahre Schweizer in Hanita (Foto: Yochi Solna)


Kein Kinder- sondern ein Jugendhaus

Corinne und Giora haben fünf Kinder, von denen keines im klassischen Kinderhaus aufgewachsen ist, das gleiche gilt für Yochis und Hannas zwei Kinder. Die Kinder wohnten zu Hause und sind als Teenager ins Jugendhaus gezogen. Die Erinnerung entspannt eine riesige Debatte darüber, welches Kind in welcher Klasse zu welchem Zeitpunkt war – für Aussenstehende bleibt dies ein ewiges Kibbuz-Mysterium, dieses untrennbar Verflochtene in dem jeder Einzelne zwar zählt, aber primär im Verhältnis zu anderen. Fakt ist, irgendwann wohnten die Jugendlichen im Jugendhaus und wer wollte, kam heim. Wer ungezogen war, auch. Denn die „Strafe“ war das Bett bei den Eltern und nicht im Jugendhaus.

Corinnes Kinder sprechen heute kein Schweizerdeutsch mehr. „Das bedauere ich ein bisschen, denn Muttersprache ist Muttersprache“, sagt Corinne. Dafür ist ihr Hebräisch perfekt, und sie erklärt fliessend in Schweizerdeutsch und Hebräisch, was ein richtiger Marmorkuchen ist und warum er in Guglhupf-Form ist, aber dann doch keinen Guglhupf darstellt. Es ist diese Melange aus Schweiz und Israel, die Hanita an diesem Abend ausmacht – und vielleicht auch nicht nur an diesem Abend. Oder, um beim Marmorkuchen zu bleiben: die israelische und Schweizer Kultur haben sich innerhalb von 50 Jahren zu einer untrennbaren Einheit verbunden, die am besten in Gemeinschaft schmeckt.

Weitere Informationen: www.hanita.co.il

 

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