MAGAZIN – LEBEN IN ISRAEL

Israels Mittelklasse braucht dringend ein Berufsbildungssystem

in Israel Zwischenzeilen/Reportagen

Von Jennifer Bligh

Interview mit Sabrina Cohen Dumani, Schweizer Ausbildungs-Expertin, sowie Vize-Präsidentin der Genfer Sektion der Gesellschaft Schweiz-Israel*, über die Implementierung des dreijährigen schweizerischen Berufsbildungssystems in den israelischen Arbeitsmarkt.

Sabrina, bitte beschreiben Sie kurz das Konzept und die Grundprinzipien des Berufsbildungssystems in der Schweiz

Es ist ein öffentlich-privates Ausbildungskonzept. Innerhalb von drei Jahren lernt der Auszubildende alles, was er für eine Karriere als Fachkraft braucht. Die Ausbildung ist zwischen den Unternehmen und dem Staat aufgeteilt. Das heisst konkret, dass der Lehrling vier Tage pro Woche im Betrieb mitarbeitet und einen Tag pro Woche in der Berufsschule Theorie lernt. Das Berufsbildungssystem ist staatlich reguliert, um einheitliche Standards zu garantieren. Dafür wird mit den Dachorganisationen zusammengearbeitet, die für ihren Berufsstand die Ausbildungs-Anforderungen definieren und auch auf dem neuesten Stand halten.

Sabrina Cohen-Dumani (Foto: Jennifer Bligh)
Sabrina Cohen-Dumani (Foto: Jennifer Bligh)

Warum halten Sie dieses Berufsbildungssystem für kleine Länder, wie die Schweiz und Israel, besonders geeignet?

Beide Länder haben hauptsächlich kleine und mittelständische Unternehmen. In der Schweiz hat sich das Berufsbildungssystem als sehr tragfähig erwiesen! Kleinere Firmen brauchen qualifizierte Fachkräfte, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Aber ist das Leben im Nahen Osten nicht ganz anders? Junge Leute dienen zwei bis drei Jahre in der Armee und gehen danach meistens für ein Jahr auf Reisen, während in der Schweiz der Übergang von der Ausbildung zur Festanstellung eher nahtlos ist.

Ich habe genau darüber mit den wichtigsten Stellen in Israel gesprochen, nämlich mit dem Ministerium für Erziehung und Bildung, Entscheidungsträgern im Wirtschaftsministerium und der Armee, CEOs von grossen Unternehmen, und den israelischen Berufsverbänden. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, eine dreijährige Ausbildung mit 15 Jahren zu beginnen. Aber warum eigentlich nicht? Die Armee würde ohne Zweifel davon profitieren, bereits ausgebildete junge Leute zu rekrutieren und während des Militärdienstes weiter auszubilden. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht funktionieren sollte. Ausserdem sind Israelis doch die besten Erfinder von Lösungen, nicht?

Welches sind denn die grössten Herausforderungen beim „Import“ eines Berufsbildungssystems?

Grob gesagt, liegt es an der der Mentalität und den Entscheidungsträgern in Israel. In der Schweiz reicht die Lehre ja bis ins Mittelalter zurück. Es war also schon immer so, dass ein Meister sein Wissen an einen Lehrling weitergibt.

Erinnert das nicht auch an die jüdische Tradition der Überlieferung?
Auf jeden Fall. Es steht ja auch, dass ein Vater die Verpflichtung hat, seine Söhne in der Thora zu unterrichten, ihnen schwimmen beizubringen und Parnassah, also Verdienst und Beruf. Ein Berufsbildungssystem zu importieren birgt keine Herausforderungen, die man nicht überwinden kann. Und die israelische Gesellschaft braucht das schnell.

Warum?

Kein Land kann sich ausschliesslich von der boomenden High Tech Industrie abhängig machen. Israel muss einen Weg finden, Arbeitsplätze für die ganze Bevölkerung zu bieten. Das trifft besonders auf die Ultraorthodoxen und die arabische Bevölkerung zu. Die Berufsbildung ist meiner Meinung nach der beste Integrationsmotor, den es gibt.

Die grösste Hürde wird sein, das Bild in den Köpfen der Eltern zu verändern, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass ihre Kinder Rechtsanwälte oder Ärzte werden. Das Ideal der Zukunft wird anders aussehen müssen: Elektroniker oder chemische Laboranten können die begehrten Berufsbilder werden.

Ähnlichkeiten zwischen der Schweiz (li.) und Israel (re.)
Ähnlichkeiten zwischen der Schweiz (li.) und Israel (re.)

Was erhoffen Sie sich konkret für Israel?

Ich glaube an Fakten, nicht an Worte der Hoffnung. Wir Schweizer sind da sehr pragmatisch. Israel braucht eine stärkere Mittelklasse, und das kann nur erreicht werden, indem eine Ausbildung die junge Bevölkerung bestens die Bedürfnisse der Wirtschaft vorbereitet. Derzeit sieht es so aus, dass viele junge Leute die Schule abbrechen. Stellen Sie sich vor, die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Israel bei 12,1 Prozent – das ist doppelt so hoch wie die restliche Arbeitslosenquote!

Ausserdem gibt es den allgemeinen Konsensus in der Wirtschaft, dass Israel eine robuste Alternative zur rein akademischen Ausbildung benötigt. Entsprechend habe ich keinerlei Zweifel, dass Israel von so einem System profitieren würde. Politisch gesehen ist das Berufsbildungssystem ideal, um Immigranten zu integrieren. Die Schweiz ist dafür ein gutes Beispiel: Immigranten in der zweiten Generation sind extrem gut integriert. Sie haben einen anerkannten Beruf und verdienen ihren Lebensunterhalt ohne Probleme. Kleine Länder mit vielen Nationalitäten kennen die Integrationsproblematik. Es ist kein einfaches Thema. Die Ausbildung ist ein exzellenter Weg, die Kultur eines Landes kennen zu lernen und ein Teil von ihr zu werden.

Ein Auszubildender bei der Arbeit im Betrieb (Foto: Sabrina Cohen-Dumani)
Ein Auszubildender bei der Arbeit im Betrieb (Foto: Sabrina Cohen-Dumani)

 Wie weit sind Sie inzwischen gekommen? Wer ist mit an Bord?

Auf der Schweizer Seite hat Johann Schneider Amman, Minister für Wirtschaft, Bildung und Innovation bereits vielfach seine Bereitschaft ausgedrückt, Israel und anderen Ländern zu helfen, ein Berufsbildungssystem zu implementieren. Auf der israelischen Seite haben Bildungsminister Shai Piron und Wirtschaftsminister Naftali Bennett offiziell ihr Interesse ausgedrückt. Das Gleiche gilt für die Berufsverbände, viele wichtige CEOs der grössten Unternehmen und weitere israelische Politiker.

Das klingt trotzdem nach einem „Aber“….

Genau. Denn es wird nur funktionieren, wenn die Unternehmen von dem Konzept der Berufsbildung überzeugt sind. Ich konzentriere mich jetzt für die Anfangsphase nicht auf gewinnorientierte Unternehmen. Mehr kann ich erst sagen, wenn wir unser Pilotprojekt starten.

Welches sind denn die nächsten Schritte?

Wir wollen im Schuljahr 2015/2016 ein Pilotprojet mit Hilfe der Schweizer Regierung, der Schweizer Fachverbände und Schweizer Unternehmen starten.

Wir müssen Unternehmen finden, die bereit sind, an so einem Pilotprojekt teilzunehmen, genauso wie Schulen und das offizielle „Go“ von Regierungsseite, um den Absolventen der ersten Runde einen Berufsabschluss zu bescheinigen. Nun muss sich zeigen, wie schnell die Israelis eine pragmatische Lösung für die offenen Fragen finden können. Dann kann das im nächsten Jahr funktionieren. Wir Schweizer helfen gerne, aber wir brauchen engagierte Mitstreiter in Israel, um gemeinsam erfolgreich zu sein.

Vielen Dank für das Interview.

*Die GIS wird sich für den Erfolg dieses Projektes engagieren und wird Teil des Projektteams sein.

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