Im Kampf gegen Jugendgewalt: Die Arbeit der Organisation „SOS Gewalt“

in Israel Zwischenzeilen/Reportagen

Wie in den meisten westlichen Ländern, nimmt auch in Israel die Jugendgewalt stetig zu. Die Organisation „SOS Gewalt“ hat eine neuartige Methode entwickelt, die vor allem Schülern eine Alternative zu Messer und Faust eröffnen soll: Es sollen Vorbilder gefunden und bisherige Verhaltensweisen hinterfragt werden. Dabei ist der Ansatz eine radikale Abwendung vom Bestrafungsprinzip…

Von Milena Hartmann und Katharina Höftmann

Als israelische Medien vor einigen Monaten über das ungeheure Verbrechen berichteten, ging ein Aufschrei des Entsetzens durch das Land: Elf Jugendliche im Alter von 13 bis 17 werden beschuldigt ein zwölfjähriges Mädchen gemeinschaftlich vergewaltigt zu haben. Sicher, Jugendgewalt war auch vorher kein Novum im Heiligen Land, zu frisch waren Fälle wie der des zweifachen Familienvaters in Beersheva, der von einem 18-Jährigen erstochen wurde, nachdem er diesen nachts darum gebeten hatte, ruhig zu sein. Oder der Fall der beiden Jugendlichen, 14 und 19, die in Bet Shemesh einen 67-Jährigen Mann für ein paar Zigaretten brutal angriffen. Als „Gefahr Nummer eins“ bezeichnete der Polizeichef Yohanan Danino sogar die Jugendgewalt im Land. Und aktuelle Studien der Regierung sowie des Fernsehsenders Channel 2 unterstreichen diesen Eindruck.

Allein in den Monaten Dezember 2013 und Januar 2014 gab es über 20 Vorfälle, bei denen Minderjährige wegen Gewaltverbrechen von der Polizei festgenommen wurden. Dieses Phänomen der steigenden Jugendkriminalität, das man so auch aus anderen Ländern wie den USA, Deutschland und der Schweiz beobachten kann, stellt die israelische Gesellschaft vor eine grosse Herausforderung. Für den Theologen Georg Rössler, ursprünglich aus Düsseldorf, der seit 1988 in Jerusalem lebt, ist die steigende Jugendgewalt in Israel schon lange ein Thema. Bereits 2004 gründete er den Verein „SOS Gewalt – Zentrum für Gewaltstudien in Israel“ mit der Mission, eine angemessene, nachhaltige und effektiv gewaltlose Antwort auf Gewalt in israelischen Schulen zu entwickeln und so eine gewaltlosere israelische Gesellschaft zu schaffen. Gemeinsam mit Yony Tsouna, Rechtsanwalt und renommierter Pädagoge, leitet Rössler heute die Organisation mit Sitz in Tel Aviv, die mit weit über tausend Workshop-Trainings für SchülerInnen und Jugendliche, Seminaren für Eltern und PädagogInnen, mit Fernseh- und Radioauftritten, regelmässigen Veröffentlichungen, Fortbildungen an Hochschulen und Universitäten eine echte Erfolgsstory ist.

Mit einem neuen Konzept stellt der Verein die bisherige schulische Gewaltprävention auf den Kopf

Das Gefühl von Entfremdung und Nicht-Identifikation mit dem (insbesondere schulischen) Umfeld gilt heute weltweit als der wichtigste Faktor für Vandalismus und Gewalt in jeder Form. Mit der Entwicklung des Konzepts „Growing Children / Starkmachende Jugendliche“hat der Verein den Bereich der schulischen Gewaltprävention auf den Kopf gestellt: Es geht nicht mehr allein und vordringlich darum, gewaltbereite Jugendliche auszusortieren und zu sanktionieren, sondern darum, Kinder und Jugendlichen aus der Entfremdung herauszutreten zu lassen, ihnen zu zeigen, wo und wie sie selber für andere Menschen in der Schulklasse, auf dem Pausenhof, im Sport, in anderen Bereichen hilfreich und unterstützend sind.

Die beiden Direktoren der Organisation: Georg Rössler (li) und Yony Choona. (Bild: SOS Gewalt)
Die beiden Direktoren der Organisation: Georg Rössler (li) und Yony Choona. (Bild: SOS Gewalt)

Dabei steht die Stärkung von Kindern, deren Verhalten als positives Vorbild dient, im Mittelpunkt. Die Kinder und Jugendlichen sollen selbst Akteure dieser Stärkung und Neudefinition von Vorbildern sein. Beliebte Kinder, die durch ihr Verhalten das Klassenklima negativ beeinflussen, werden durch das Verhalten und die Meinungen anderer Kinder, auf ihre verborgene Schwäche in einer scheinbaren Stärke aufmerksam gemacht und zum Umdenken bewegt. So wird es möglich indirekt, über den Klassenverbund, mit Kindern zu arbeiten, die im Allgemeinen als schwer zugänglich gelten. Jedes Kind soll sich die Frage stellen: Wo ist mein „Stark Macher“ Lebensbereich? Wo bin ich gut? Wo kann ich andere gross machen? Wo tue ich das vielleicht sogar schon? In diesen Prozess sollen sowohl Eltern, andere Schüler als auch Lehrer einbezogen werden, da sie diejenigen sind, die die Kinder am besten kennen. Statt also den Fokus wie in der klassischen Gewaltprävention auf den Aggressor oder das Opfer von Gewalt zu richten, konzentriert sich „SOS Gewalt“ auf die positiven Kräfte innerhalb von Gruppen, auf die Kräfte, die zu Vorbildern und Vorläufern für einen Wandel werden können.

Methode von „SOS Gewalt“ wird landesweit in israelischen Schulen angewendet

Die Methode wird heute landesweit in Schulen angewendet. Gemeinsam mit den Jugendlichen wird ein Klassenklima geschaffen, in dem sich jedes einzelne Kind sicher, wichtig und dazugehörig fühlen kann. Nur in einem solchen Umfeld können Kinder wachsen und ihre eigene Persönlichkeit und Fähigkeiten entfalten. Die Liste der Errungenschaften und Erfolge von „SOS Violence“ ist lang. Über die Jahre und bis heute arbeitete der Verein mit über 17.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 18 Jahren im jüdischen wie auch im arabischen Bereich zusammen. 40 Prozent der SchülerInnen werden als „Youth-at-risk“, Jugendliche aus sozialen Brennpunkten, bezeichnet. Eltern und PädagogInnen werden unmittelbar in die Arbeit einbezogen, und über 1000 LehrerInnen wurden in speziellen Seminaren und im Rahmen von akademischen Fortbildungen erreicht.

Doch die Arbeit von „SOS-Gewalt“ ist noch lange nicht zu Ende: So sollen u.a. die entwickelten Methoden in die pädagogische Arbeit des Holocaust-Gedenkmuseums Yad Vashem sowie in die Curricula für die Lehrerausbildung in Israel einbezogen werden. Und mit jedem dieser Schritte will „SOS Gewalt“ dem Traum einer Gesellschaft ohne ansteigende Jugendgewalt näher kommen.

Lehrer und Schüler bei einem Workshop der Organisation „SOS Gewalt“. (Bild: SOS Gewalt)
Lehrer und Schüler bei einem Workshop der Organisation „SOS Gewalt“. (Bild: SOS Gewalt)

 

Vorbilder setzen, statt bestrafen, lautet das Prinzip von „SOS Gewalt“. (Bild: SOS Gewalt)
Vorbilder setzen, statt bestrafen, lautet das Prinzip von „SOS Gewalt“. (Bild: SOS Gewalt)

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Vorbilder setzen, statt bestrafen, lautet das Prinzip von „SOS Gewalt“. (Bild: SOS 

Redakteurin Katharina Höftmann Ciobotaru arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT ONLINE. Sie lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Tel Aviv («Guten Morgen Tel Aviv», «Die letzte Sünde»).